life-connect Philosophie

Adversus probos — gegen die Tugendhaften

Vorgetragen beim (nicht-öffentlichen) Philo-Slam an der Universität Wien am 2.6.2023

»Das gute Leben ist ein tugendhaftes. — Echt jetzt? „Tugendhaft“, das klingt aber wirklich altmodisch, altvatrisch, moralinsauer. — Ja doch! Die Tugenden haben nur moderne Namen bekommen, damit sie wieder attraktiv werden, sie heißen heute „Achtsamkeit“ und „Authentizität“. Das musst du machen! Die musst du dir erwerben, auch wenn der Erwerb zunächst nicht viel Spaß macht, du willst es aber eigentlich eh selber, nur vielleicht weißt du das noch nicht, und dann wird alles gut. Endlich gut. Authentizität ist im Moment ja geradezu die Kardinaltugend: Wenn du es nur schaffst, wirklich authentisch zu sein, steht in allen Lifestyle-Blättern und Blogs, dann gelingt dir dein Leben voll und ganz. —

Sorry — jetzt habe ich schlechte Nachrichten für euch: Das reicht nicht. Tugenden reichen einfach nicht zum guten Leben.

Pflastersteine, links unten rote und rechts oben weiße. Die Grenze der Farben verläuft diagonal durch das Bild von links oben nach rechts unten.

Das hat schon der alte Kant in hellster Deutlichkeit erkannt. Die Beispiele, die er anführt: „[1] Mäßigung in Affecten und Leidenschaften, [2] Selbstbeherrschung und [3] nüchterne Überlegung“1 sind seit jeher und immer noch was Cooles. Ergänzen wir modern: Achtsamkeit und Authentizität. Klingt doch vorerst so schlecht nicht. Wenn du solche Sachen in dein Leben einbaust, dann wird es gut, oder zumindest besser, so scheint es. —

Aber nicht unbedingt: Stellen wir uns für einen Moment einen Mörder vor, also einen, der einen Menschen vorsätzlich zum Tode bringt. Das ist schon etwas Grausliches, nicht wahr? Und jetzt stellen wir uns noch zusätzlich vor, dieser Mörder gehe [1] maßvoll im Affekt und seiner Leidenschaft, [2] selbstbeherrscht, [3] nüchtern überlegt — und ergänzen wir wieder modern: achtsam und authentisch — vor. Dann ist sein Mord doch noch viel grauslicher, dann ist er ein kaltblütiger Mörder, und uns steigt endgültig die Grausbirne auf.2

Wer würde einen Axtmörder, der so vor ihm oder ihr steht, nicht anflehen: „Sei jetzt bitte, bitte, für einen Moment so inauthentisch, wie du nur kannst, zumindest, bis ich weggelaufen bin!“

Was also läuft schief mit den Tugenden? (Ich sage es euch gerne.)

Eine Unterführung, unten ist ein Fluss zu sehen, gegenüber eine Wand mit Graffiti und oben die Decke. In der Bildmitte, in Form eines Graffiti, ein paar roter Augen.

Das Grundproblem mit Tugenden ist nämlich: Sie bringen uns nur auf unserem bisherigen Weg weiter, aber nicht auf einen gänzlich neuen Weg. Oder, wieder mit Kant: Ihre Verwirklichung kann eine „Reform“ der Gewohnheiten mit sich bringen, aber keine „Revolution in der Gesinnung im Menschen,“3 keine Revolution des Herzens. Über allem gilt es, den Willen zu kultivieren: dass er ein guter Wille werde, der „für sich selbst glänz[t]“, „wie ein Juwel“4. Den „Charakter“5, könnte man auch sagen, für die, denen das besser in den Ohren klingt.

Tugenden bringen uns auf dem Weg unseres guten Lebens weiter, wenn wir ihn schon eingeschlagen haben, aber sie bringen uns nicht schon dazu, diesen Weg initial zu beschreiten. Auf diese Weise ist die Bemühung um ein tugendhaftes Leben zwar nicht schlecht, zugestanden, aber sie kann nicht das Letzte sein.

Also, die bottom line ist: Wie man nach Kant noch Tugendethiker:in sein kann, ist mir ein Rätsel. Schlicht ein Rätsel. Aber es gibt sie.

Danke.«

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1 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. Bd. 4, S. 394.

2 Vgl. I. Kant, Grundlegung, S. 394.

3 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akad.-Ausg. Bd. 6, S. 47.

4 I. Kant, Grundlegung, S. 394.

5 I. Kant, Grundlegung, S. 393.